Seminar zu "Mensch vor Marge"

Wie ticken die Spekulanten?

Experten wie Dr. Markus Sendel-Müller brachten den Seminar-Teilnehmer*innen die Hintergründe näher.

„Mit Lebensmitteln spielt man nicht!“ heißt es. Doch längst ist auch die Konsumgüter- und Lebensmittelbranche zum Spielball von Spekulanten geworden: mit teilweise höheren Gewinnmargen als bei Luxus-Sportwagenherstellern. Welche Auswirkungen hat das? Was bedeutet das für die Beschäftigten?

Mit Fragen wie diesen haben sich im September 20 Betriebsräte auf dem Seminar „Mensch vor Marge“ im Bildungszentrum Oberjosbach (BZO) auseinandergesetzt, Erfahrungen ausgetauscht und mit dem Betriebswirt Markus Sendel-Müller Finanzkennzahlen gewälzt. Anknüpfungspunkt der Diskussionen war die gleichnamige Initiative, mit der die NGG seit 2018 öffentlich und in den Betrieben darauf aufmerksam macht, was finanzmarktgetriebene, aggressiv agierende Investoren und Beteiligungsgesellschaften in den Unternehmen anrichten: massive Umstrukturierungen, Massenentlassungen, Produktionsverlagerungen, Forderungen nach Tarifverzicht und vieles mehr.

78.000 Beschäftigte betroffen

Auch Corona konnte dieser Entwicklung nichts anhaben. Während die Bruttolöhne in Deutschland im Jahr 2020 gegenüber 2018 um 1,3 Prozent sanken, stieg das von der deutschen Investmentbranche verwaltete Vermögen im gleichen Zeitraum um 23,3 Prozent auf 3.851 Milliarden Euro in 2020. Dieses Vermögen wird leider zunehmend auch in der Ernährungswirtschaft und im Gastgewerbe angelegt: zum Beispiel über Investoren, die mit ihren Hedgefonds Aktien kaufen, wie bei Nestlé, oder über sogenannte private Beteiligungsgesellschaften (Private Equity) wie im Falle des Eisproduzenten FRONERI (Schöller). Welchen Umfang Private Equity in den NGG-Branchen bereits hat, hat der Soziologe Christoph Scheuplein vom Institut Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule Münster ermittelt: Zwischen 2012 und August 2021 gab es demnach 78 sogenannte Buyouts, also Unternehmensübernahmen durch private Beteiligungsgesellschaften, die rund 78.000 Beschäftigte betreffen. Darunter große Namen wie die Systemgastronomen Nordsee und Maredo, das Cateringunternehmen Hofmann Menü Manufaktur, die Bäckereiketten Unser Heimatbäcker / Lila Bäcker, De Mäkelbörger und Heinz Bräuer und die Bäckerei Kronenbrot.

Zerlegen, absahnen und weg

Welche Auswirkungen das hat, machte Falk Schwerdtner, Konzernbetriebsratsvorsitzender von FRONERI, deutlich. Das Unternehmen wurde Ende 2016 als globales Joint Venture gegründet, an dem zu jeweils 50 Prozent der Konsumgüterriese Nestlé und das Private Equity Unternehmen PAI Partners beteiligt sind: mit dem Ziel der Bündelung von „Expertisen und Synergien“ im Eiskrem- und Tiefkühlkostmarkt. Schwerdtner: „Das bedeutet nichts anderes als maximale Erträge erzielen und die bedingungslose ‚Werterschließung‘, sprich: Re- und Umstrukturierungen, die Veräußerung von Unternehmensteilen und Schließungen, unabhängig von Produktivität und Rentabilität! Außerdem: Verkauf von selbstgenutzten Immobilien und deren Rückpachtung, rückläufige Investitionen, institutionalisierte Kurzfristigkeit und vor allem eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, Eingriffe in den Tarif und eine sinkende Beschäftigungssicherheit. Seit 2016 musste rund die Hälfte der Belegschaft, das sind rund 1000 Kolleginnen und Kollegen, gehen.“ Dennoch ist die weitere Zukunft von FRONERI ungewiss, denn in der Regel ziehen sich die Beteiligungsgesellschaften nach getaner „Zerlegungsarbeit“ und Abschöpfung von Gewinnen wieder aus den Unternehmen zurück. In 75 Prozent aller Fälle, so Scheuplein, kommt dann eine weitere Private Equity Gesellschaft oder ein anderer strategischer Investor um die Ecke: weitere Umstrukturierungen nicht ausgeschlossen.

Nicht gegeneinander ausspielen lassen!

Was solch strategische Investoren anrichten können, haben Andreas Zorn, der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrates, und seine Kolleginnen und Kollegen von Nestlé erfahren. Da reichte ein Aktienerwerb von deutlich unter zwei Prozent der ausgegebenen Aktien schon, damit sich eine Konzernleitung den aggressiven Vorgaben eines Hedgefonds-Managers unterwarf: Über Aktienrückkäufe wurde die Börsenbewertung gezielt beeinflusst, der Aktienwert erhöht und über die Einforderung einer Kapitalrendite, also einer Gewinnmarge, von rund 20 Prozent auch der Druck ins Unternehmen; mit ähnlichen Folgen wie bei FRONERI.

Herausfinden, was läuft!

Was also tun? Sich innerhalb eines Konzerns auch über Landesgrenzen hinweg nicht gegeneinander ausspielen lassen, ist eine wichtige Botschaft der betroffenen Betriebsräte: „Menschen gehen vor Marge, Solidarität darf nicht am eigenen Werkstor enden. Und: Laut über die Erfahrungen berichten, zusammentragen, was wir in den unterschiedlichen Branchen wissen. Aber vor allem auch: Herausfinden, was läuft! Dass in Deutschland keine Teilkonzernabschlüsse und -lageberichte mehr erstellt werden müssen, wenn ein Mutterunternehmen zugleich Tochterunternehmen einer Mutter mit Sitz in Luxemburg oder der Schweiz sei, trage zur Verschleierung von Finanzstrukturen in Konzernen bei: „Wir können noch so interessiert sein in Wirtschaftsausschüssen und Aufsichtsräten – wir erfahren viel zu wenig. Dass Unternehmen darüber hinaus nicht gezwungen werden, Investoreninformationen zu veröffentlichen, muss sich ebenso ändern wie einige der steuerlichen Begünstigungen von aggressiven Unternehmensübernahmen.“

Mehr Infos zu den Seminaren im BZO


Eine gekürzte Version dieses Artikels erscheint auch in der "einigkeit", dem Mitgliedermagazin der Gewerkschaft NGG (Ausgabe 4, 2021).